Samstag, 8. Oktober 2011

Werkstattbericht


Liebe Nikola,

im Austausch mit Kollegen fasziniert mich immer besonders, auf welch unterschiedliche Arten Texte entstehen. Manche scheinen ein „Diktat der Muse“ zu sein, das im kreativen Rauschzustand nur noch notiert werden muss, andere sind hart erkämpft, mit Schreibblockaden belastet und im Schneckentempo niedergeschrieben, wieder andere sind akribisch vorbereitet, genauestens durchkonstruiert und dann präzise ausgeführt.
Es haben sich regelrechte Fronten gebildet zwischen den sogenannten Planern und den Bauchschreibern, die argumentativ jeweils die kuriosesten Vorteile für sich in Anspruch nehmen und nicht selten mit ebenso kuriosen Vor-ur-teilen der „Gegenseite“ begegnen. Ich finde eine Gegenüberstellung und Bewertung der verschiedenen Herangehensweisen sehr müßig und überflüssig. Solange mich die Texte überzeugen, ist in meinen Augen alles legitim. Interessieren tut mich der Entstehungsprozess dennoch – oder grade deswegen. 
Natürlich macht jeder Autor nicht immer die gleichen Erfahrungen mit seinen Texten, zumal wenn er, so wie wir, stark divergierende Genres bedient, etwa Roman und Bilderbuch. Aber gewisse Muster beim Arbeiten kennt sicherlich jeder Schreiber.
Ich würde gerne in deiner Werkstatt Mäuschen spielen, mit dir einen Blick hinter die Kulissen werfen, wobei mich dabei einerseits die Tür deines Arbeitszimmers interessiert, hinter der sich die nach außen sichtbaren Abläufe des täglichen Schreibens abspielen, andererseits auch die Tür deines „Oberstübchens“, sprich: Ich möchte den kognitiven Prozessen beim Schreiben ein wenig auf die Schliche kommen. Magst du erzählen, wie du vorgehst, wenn ein neuer Text ansteht?

Liebe Ruth,

da ich ja gerade einen neuen Roman beginne, bin ich ganz nah dran am Entstehungsprozess – insbesondere an dem, was der eigentlichen Niederschreibphase vorausgeht. Und das hilft mir sehr bei der Beantwortung Deiner Frage, denn mir ergeht es oft so, dass ich, wenn ich einen Text fertiggestellt habe, gar nicht mehr rekonstruieren kann, wie es eigentlich mit ihm angefangen hat. Viel zu viel lagert sich da übereinander, als dass ich noch objektiv darauf zurückgreifen könnte, was sich ganz zu Beginn - roh und schemenhaft - in mein Ideenstübchen geschlichen hat, und wie die einzelnen Schritte hin zu dem, was daraus geworden ist, ausgesehen haben.
Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es ziemlich lange dauert, bis überhaupt etwas sichtbar wird oder gar ein Exposé plus Leseprobe entsteht. Insbesondere bei Romanen ist es ja nicht nur eine einzige Idee, die die Geschichte triggert, sondern ein ganzes Gefüge von Motiven, Figuren, zwischenmenschlichen Systemen und inneren Befindlichkeiten, die man irgendwie in Handlung und Sprache „übersetzen“ muss, um sie anderen mit-zu-teilen. Die einzelnen Puzzlesteine „finde“ ich auch meistens gar nicht in meinem Arbeitszimmer, über meinem Notizbuch oder am Rechner. Sie überkommen mich bevorzugt beim Duschen oder auf meiner Standard-Spaziergeh-Runde über den Lindener Berg – in Form eines inneren Bildes, eines Schlüsselbegriffs oder einfach einer Stimmung, die ich zum Ausdruck bringen möchte. Bis ich in der Lage bin, diese Ideen schriftlich festzuhalten, muss ich sie jedoch erst einmal in Worte fassen, zunächst stumm für mich selbst (das ist die Phase, in der ich aufpassen muss, nicht gegen einen Baum zu rennen, in die falsche U-Bahn zu steigen oder den halben Einkauf zu vergessen), dann auch gerne im vertraulichen und konspirativen Gespräch, weil man die Dinge dafür noch genauer auf den Punkt bringen muss und eventuelle Unstimmigkeiten leichter entlarvt. Gleichzeitig entwickeln sich die Motive kontinuierlich weiter, werden konkreter, fassbarer, verbinden sich miteinander zu einem Ganzen und brennen sich immer tiefer in meine Vorstellungskraft ein, bis ich sie schließlich – vergleichsweise knapp und wahrscheinlich nur für mich selber les- und nachvollziehbar - in mein Notizbuch pinsle. Und obwohl ich dann vom fertigen Roman noch eine Unendlichkeit entfernt bin, stellt sich an diesem Punkt ein allererstes Gefühl von „Wow, ich hab da was geschaffen!“ ein.
Und bei Dir?

Die erste Idee zu einer neuen Geschichte bekomme ich meistens auch außerhalb meines Arbeitszimmers. Danach brüte ich allerdings fast nur noch dort über dem entstehenden Text. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die von ihren Geschichten und Figuren im Alltag oder in ihren Träumen verfolgt werden. (Wofür ich sehr dankbar bin.)
Ich glaube, das liegt daran, dass ich meine Texte ins Notizbuch „verbanne“, wo ich sehr ausführlich in einer Art schriftlichem Selbstgespräch alles festhalte, was mir zum Text einfällt. Anfangs sind das Figureneigenschaften, Beziehungsdynamiken und Hintergründe. Später, wenn das Exposé steht, gehe ich mit dem Notizbuch in die konkrete Szenenplanung, immer Stück für Stück, jeden Tag, bevor ich weiterschreibe. Die handschriftlichen Seiten überwiegen die getippten immer, bei Bilderbüchern um ein Vielfaches, aber auch bei meinen Romanen ist das Verhältnis eindeutig. Was ich da festhalte, ist nicht nur für mich verständlich, sondern wäre es, wenn ich es zuließe, für jeden. Durch diese Ausführlichkeit bleiben mir meine Überlegungen auf lange Sicht nachvollziehbar. Ich kann jederzeit rekonstruieren, warum ich mich für die eine und gegen die andere Lösung entschieden habe. Oder warum ich mit einem Kapitel unzufrieden war und es wieder gelöscht habe. Dadurch, so meine Theorie, ist mein Hirn während des restlichen Tages nicht ständig im Geschichten-Bereitschaftsdienst.
Die eigentliche Schreibarbeit besteht dann in der Umsetzung meiner Überlegungen und ist ein gesonderter kreativer Akt. Ich empfinde es immer so, dass ich mir im Notizbuch die konzeptuelle Grundlage erarbeite. Ich bin da wesentlich strenger und analytischer mit mir, als wenn mir schon tolle Formulierungen „einschießen“ und ich nur so drauflos schreibe. Logische Lücken und Ungereimtheiten stehen sozusagen nackt und ohne Schminke da und werden entsprechend schnell enttarnt und aussortiert.
Wenn ich schließlich weiß, was in die nächste Szene soll, kann ich mich zu 100% auf die Sprache und die Details konzentrieren. Nichts desto trotz komme ich oft nur langsam voran und formuliere dauernd neu. Adrenalinstöße sind selten, aber dafür umso willkommener, und sie überfallen mich beim handschriftlichen Konzipieren genauso wie beim eigentlichen Schreiben: Wenn eine Gedankenkette sich schließt, ein besonders passendes Bild gefunden ist oder ich begreife, warum meine Figur an dieser Stelle so handeln muss und das eine ganz neue, stimmige Wende für den Plot bedeutet.
Diese „monologische“ Arbeitsweise ist für mich eigentlich nur zu toppen durch einen Dialog mit dem richtigen Menschen. Das nehme ich immer dann in Anspruch, wenn ich das Gefühl habe, mich allein nicht mehr weiter voran treiben zu können. Dann brauche ich Input von außen, um den Knoten zu lösen.

Das, was Du als „Figureneigenschaften, Beziehungsdynamiken und Hintergründe“ beschreibst, halte ich natürlich auch ausführlich schriftlich fest. Ins Notizbuch gelangen dabei eher die gesammelten Ideen, stichwortartig und teilweise noch ziemlich unsortiert, dann folgt i. d. R. mein erster Schritt am Computer, bei dem ich das Ganze „in Form“ bringe und zu jeder Figur und ihrem persönlichen Hintergrund einen eigenen Text verfasse. Dasselbe ziehe ich mit der geplanten Rahmenhandlung durch, was mich zwingt, ganz bestimmte Weichenstellungen von vorneherein festzulegen und aus der Unendlichkeit von Möglichkeiten die logischsten, stringentesten und für die Entwicklung der Hauptfigur unverzichtbarsten auszusuchen. Dadurch ergeben sich schon einige markante Eckszenen, die mir so klar vor dem inneren Auge stehen, dass ich sie später eigentlich nur noch abzurufen brauche, wenn sie an der Reihe sind. Andere Szenen, die die Strecken zwischen diesen Höhe- und Wendepunkten füllen, sind noch sehr viel unklarer, obwohl sie genauso wichtig sind. Sie bieten mehr Spielraum, um bestimmte Aussagen in Handlung umzusetzen, Entwicklungen voranzutreiben oder Gefühlszustände darzustellen. Hier muss ich mich ebenfalls jedes Mal hinsetzen und Schrittchen für Schrittchen planen. Ich brauche, bevor ich anfange, sie zu schreiben, zumindest eine Ausgangslage und einen Zielpunkt der inneren Befindlichkeit, ein geeignetes Setting und die konzeptionellen Leitbegriffe, die über der Handlung schweben. Die schriftliche Umsetzung benötigt dann meist trotzdem noch eine Menge Zeit und ist manchmal auch mit Versuch und Irrtum verbunden, mit einem allmählichen Annähern an das, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Schreiben ist bei mir ein sehr langsamer Prozess, aber wenn ich eine Szene abschließe, habe ich auch das Gefühl, sie mit Gründlichkeit bearbeitet und nicht eher losgelassen zu haben, bis sie auf mich wirklich stimmig wirkte. Und interessanterweise schreibe ich, wenn ich einen Roman einmal zu Ende gebracht habe und mich ans Schleifen mache, auch nach zeitlicher Distanz nur noch sehr wenige von ihnen über Details und Feinheiten hinaus um.

Ja, das kommt mir alles sehr bekannt vor. Beim Szenen-Abschließen würde ich gerne einhaken. Ich finde es faszinierend, wie das eigene Gespür für die Stimmigkeit eines Textes offenbar zuverlässig und hartnäckig im Hintergrund arbeitet. Ich will nicht behaupten, dass ich immer klar sehe, was nicht funktioniert, aber dass etwas nicht funktioniert, macht sich emotional sehr stark bemerkbar. Und ich gehöre, wie du ja auch, zu denen, die mit so einem Gefühl dann nicht weiterschreiben können. Dabei frage ich mich, ob das nicht manchmal sinnvoller wäre. Die Zügel ein wenig lockerer lassen, erst mal nach vorne schreiben, vielleicht enthüllt ja eine spätere Entwicklung, wie sich die aktuelle Szene verbessern ließe – aber wenn mich nicht massivster Zeitdruck dazu zwingt, kann ich mit „unfertigen“ Szenen im Nacken nicht weitermachen.
Gottlob gibt es Testleser, die meist den Finger auf genau die Stellen legen, die ich selber schon diffus ins Auge gefasst hatte. Und die dann mit viel mehr Klarheit sagen können, was das Problem ist.
Ich glaube, dieses Beharren auf einem beständigen Endresultat (schon die erste Szene soll sitzen und am Ende noch 1:1 so da stehen) basiert bei mir auf der Vorstellung (oder dem Bedürfnis danach), dass der Text so etwas wie eine eigene Wahrheit hat – oder sie konstituiert. Wenn ich schreibe, dass es in der ersten Szene regnet, dann regnet es. Der innere Film, den ich damit schaffe, gleicht einer Erinnerung. Ich kann in einem späteren Überarbeitungsgang nicht den Regen in Sonnenschein umschreiben, ohne ein Gefühl von Realitätsverlust zu erleiden. „Es hat doch aber geregnet!“, kommt der Protestschrei. Und auch, wenn das vielleicht noch nicht mal ein besonders wichtiges Detail ist, ist es doch so elementar mit der Geschichte verbunden wie es die „Wetterkulisse“ einer Erinnerung ist.

Ganz genau! Diese inneren Bilder, mit denen man als Autor zunächst einmal ganz für sich allein ist, sind sozusagen das Fundament, auf dem die Geschichte szenisch und sprachlich aufgebaut wird. Und jedes entstehende Stockwerk muss statisch daran angepasst und Stein auf Stein darauf angeordnet werden, sonst kann es passieren, dass alles in sich zusammen kracht. Insofern schreibe ich auch nur äußerst ungern auf Lücke, wenngleich es manchmal sicher bequemer wäre, eine unfertige Szene beiseite zu schieben und erst mal weiterzumachen.
Ich finde Deinen Vergleich der inneren Bilder mit einer Folge von Erinnerungen sehr passend. Man hat lange mit diesen Bildern gelebt, sie haben für einen eine subjektive Wirklichkeit erlangt. Insofern ist es auch immer eine heikle und sehr sensible Angelegenheit, wenn weitere Personen ins Spiel kommen und – beispielsweise während des Lektorats – an einzelnen Szenen nachträglich rumgefeilt werden muss. Denn ein Text erzeugt in niemandem dieselben Bilder, ist in einem bestimmten Maße immer mehrdeutig, und die Vorstellungen verschiedener Personen – Autor, Testleser, Lektor und später auch Rezipient – werden einander nur vage ähneln. Rückmeldungen sind dabei ein Segen, wenn sie helfen, Szenen noch mal quasi „von außen“ zu betrachten oder ein Setting, das ich aufgrund meiner verselbständigten Vorstellungen vielleicht nur unzureichend dargestellt habe, klarer auszustaffieren. Aber wenn sie mit dem, was Du den „inneren Film“ nennst, nicht vereinbar sind, wird es problematisch.

Natürlich. Ich denke, da muss man dann ganz klar Grenzen setzen und sich eventuell einen Kompromiss überlegen. Aber meistens sind die Vorschläge im Lektorat ja zum Glück dergestalt, dass sie nicht die ganze Text-Welt durcheinanderwirbeln. Wobei … aber lassen wir das lieber.
Ich habe vor ein paar Tagen eine eigenartige Beobachtung gemacht. Es ging in meinem Text um einen Weg, den meine Figur Elisa entlangläuft und um die Frage, ob sie diesen Weg kennt oder nicht. Ich habe mich für „ja“ entschieden. Die nächste Frage war dann: „Woher kennt sie ihn?“ Und dann habe ich auf diesen Weg mehrere Stationen gelegt, die zu Elisas Alltag gehören, die ich aber in diesem Moment erst erschaffen habe, inklusive einer Nebenfigur mit Hutladen. Es macht alles in allem nur eine halbe Seite aus, aber diese halbe Seite hatte auf mich eine Art 3-D-Effekt. Als hätte ich vorher nicht rechts und nicht links geguckt, oder besser, als wäre Elisa bisher über ein weißes Blatt Papier gewandert.
Ich glaube, dass ich im ersten Anlauf, den ich mit einer Szene nehme, erst mal nur das sehe, was für die Szene unabdingbar ist. In einem zweiten, dritten, xten Schritt kommen die Details dazu. Manchmal, wie bei meinem Weg, sogar noch in einer zeitlichen Dimension, indem ich über die Routine der Figur ihre Vergangenheit konstituiere. Was mich zu einer Frage zurückgebracht hat, die mich schon vor vielen Jahren beschäftigt hat: Was existiert eigentlich in einem Text, wenn man es nicht hineinschreibt? Ich glaube, das Bild, das man sich vom Schreibprozess macht, ist doch, dass der Autor eine komplexe Welt vor seinem inneren Auge sieht, von der er dann Teile beschreibt. Ich glaube aber, dass es bei mir oft so ist, dass ich mir diese Welt er-schreiben muss. Dass da von alleine gar nichts ist, schon gar keine komplexe, klare Vorstellung. Ich zitiere mal meine Elisa und frage dich: „Bin ich durchgeknallt?“ Oder kennst du das? (Oder beides?)

Beides ... J
Ich platziere meine Figuren meistens in eine halb-reale Welt. Das heißt, die einzelnen Stationen, die sie passieren, gibt es wirklich. Ich weiß, wo sie wohnen, wo sie sich gerne aufhalten, was sie dabei beobachten können. Dabei bediene ich mich ungeniert an meiner eigenen Umgebung, teilweise vermixt mit Orten, die für mich als Kind, Jugendliche, junge Erwachsene von Bedeutung waren oder ein bestimmtes Gefühl ausgelöst haben.
Die Abbildung und Anordnung dieser Stationen ist allerdings nicht 1:1, sondern auf die jeweilige Geschichte zugeschneidert. Es wäre also ein aussichtsloses Unterfangen, wenn jemand mit dem Stadtplan versuchen würde, die Wege meiner Figuren abzuschreiten. Für mich relevant sind einzelne markante Ausschnitte, die ich bereits vor dem Schreiben ziemlich genau vor mir sehe. Wie ich überhaupt das ganze Drumherum, sei es das Stadtbild, Landschaften, das Wetter oder die Geräuschkulisse sehr viel deutlicher vor Augen (und Ohren) habe als zum Beispiel die Gesichter meiner Hauptfiguren. Anders ist es aber mit Wohnungen, die ja einen wesentlichen Teil der Szenerie darstellen. Sie einzurichten ist für mich ein Bestandteil der Figurencharakterisierung, und bei ihnen geht es mir ähnlich wie Dir in Deiner Straßenszene. Ich habe vorher zwar von Anfang an einen groben Wohnstil vor Augen, aber die Einzelheiten – vom selbstgebauten Backsteinregal über die Bücher und CDs auf dem Nachttisch bishin zum Poster an der Badezimmertür – materialisieren sich erst beim Schreiben. Und wirklich durchgeknallt wird es, wenn man hinterher im „echten Leben“ anfängt, die in der Geschichte verwendeten Requisiten „wiederzufinden“ - Ach, das ist doch ... oder: So ähnlich könnte ... Da merke ich dann, wie sehr die inneren Vorstellungen die Wahrnehmung der äußeren Welt steuern und umgekehrt. Geht Dir das auch manchmal so?

Ja. Ich hab ab und zu regelrechte Flashs, dann erinnert mich irgendwas im Alltag an ein Detail aus einer meiner Geschichten, und ich denke: „Darüber hab ich doch geschrieben!“ Oft brauche ich einen Moment, um drauf zu kommen, was das jetzt war, aber dann finde ich meistens die Textpassage in meinem Kopf (natürlich nicht wortwörtlich), um die es ging. Offenbar werden die Geschehnisse oder auch die Orte und Utensilien einer Geschichte irgendwie im Gehirn getaggt, mit „geschriebener Welt“ oder wie immer man das nennen will. Diese „kognitiven Konglomerate“, deren Zentrum uns verschlossen bleibt, aber die Peripherie preisgeben, gibt es ja öfter: Uns fällt ein Name nicht ein, wir wissen aber, dass er mit N anfängt. Wir haben vergessen, was wir tun wollten, wissen aber noch, dass es was mit dem Kühlschrank zu tun hatte. Wir erkennen ein Gesicht auf der Straße und erinnern uns nicht, wo wir dem Menschen schon mal begegnet sind, können aber sofort sagen, ob es ein angenehmer oder unangenehmer Anlass war. Usw. Die Welt der Geschichten wird offenbar als ebenso komplexe Einheit in ihrem Schöpfer abgespeichert. Mit der Zusatzinformation: Geschichte. Und auch, wenn wir nicht spontan drauf kommen, woher genau das Detail stammt, das in uns die Erinnerung auslöst, wissen wir doch, dass es seinen Ursprung in einem Text hat.
Dass du die Umgebung klarer vor Augen hast als die Physiognomie deiner Figuren, finde ich sehr interessant. Auch mir sind Gesichter lange unklar, manchmal für immer, oder zumindest bis zur ersten Skizze des Illustrators. Ich kann die Gesichtsausdrücke klar beschreiben, aber auf welcher „Grundsubstanz“ sie sich abspielen – da hab ich oft keine Vorstellung. Verrückt, dass so was überhaupt geht.

Die Gesichtszüge sind auch bei mir der Schwachpunkt. Ich „sehe“ die Szenerie meist aus den Augen des Protagonisten/ der Protagonistin, in dem oder der ich ja gerade ganz intensiv drinstecke. Nur manchmal wechsle ich für kurze Zeit in eine Außenansicht. Daraus folgt, dass ich Nebenfiguren häufiger ins Gesicht sehe als „mir“ selbst. Ihre Stimmen, ihre Bewegungen und äußere Merkmale wie Kleidung, Frisur und Accessoires sind für mich dabei jedoch leichter zu fassen als die reinen Züge. Eine Vorstellung des jeweiligen „Typs“ mit seiner entsprechenden Mimik habe ich aber immer, und es ist jedes Mal spannend für mich, ob der sich in den Illustrationen widerspiegelt.

Ja, die Illustrationen! In dem Moment, wo eine Figur in Form einer Illustration Gestalt angenommen hat, IST sie diese Gestalt. Allerdings merke ich jetzt, wo ich zum ersten Mal eine Reihe schreibe, dass ich mir trotz der Vignetten von Karsten Teich beim Schreiben weiterhin „echte“ Menschen vorstelle, also in einer Art Spielfilm denke. Es gibt dann allerdings auch „Standbilder“, Momente innerhalb einer Szene, die ich mir gut als Illu vorstellen könnte. Diese Standbilder besetze ich dann mit den Figuren des Illustrators. Aber sehr klar bin ich mir über das alles, offen gestanden, nicht!
Im Bilderbuch ist das allerdings anders. Hier gehe ich beim Schreiben sehr stark vom jeweiligen (vorgestellten) Bild aus und fertige auch immer einen mehr oder weniger genauen Illustrationshinweis an. Text und Bild müssen im Bilderbuch so passgenau aufeinander zugeschnitten sein, dass ich es mir gar nicht anders vorstellen kann, als vom Statischen, dem Bild, auszugehen und mit dem Text die Dynamik der Handlung zu schaffen. Ein Spielfilm im Kopf wäre da eher kontraproduktiv (ein Zeichentrickfilm natürlich genauso). Es geht darum, den entscheidenden Moment im Bild einzufangen und alle anderen Momente zu erzählen oder dem Weiterspinnen des Lesers zu überlassen.

Ja und nein. Beim Schreiben von Bilderbuchtexten habe ich auch eine Sequenz einzelner Bilder vor Augen. Ich halte mich mit Illustrationsanweisungen allerdings soweit es mein Geschriebenes erlaubt zurück, weil ich glaube, dass Illustratoren noch mal einen ganz anderen Blick auf die Geschichte einnehmen und andere Wege der Visualisierung erkennen als ich, die ich trotz aller bildlichen Vorstellungen stark in Worten, Geschehnissen und Innenwahrnehmungen denke.
Und damit bin ich bei einem Punkt gelandet, der mich im Moment sehr beschäftigt. Nämlich wie viel ich eigentlich von mir selber preisgebe, wenn ich beim Schreiben so intensiv in meine Figuren schlüpfe, ihnen meine Lebensumwelt, meine inneren Bilder und meine Sehnsüchte auf den Leib schreibe. Mein Eindruck ist: mehr als mir manchmal bewusst ist! Mal schöpfe ich aus eigenen Erfahrungen, mal bewege ich mich relativ losgelöst in der erfundenen Handlung, aber letztendlich verpacke ich dabei lauter Nikola-Facetten in Kostüme aus Fiktion. Vielleicht begründet das auch meine Abneigung gegen thematische Vorgaben und Zielgruppenfixiertheit. Vielleicht ist dieses tägliche Schreibtischritual, ist all das, was ich unter dem Begriff „Arbeiten“ zusammenfasse, nichts anderes als ein inneres Refugium, in dem ich mir tausendfach begegne, um eine glaubwürdige Geschichte erzählen zu können – und nebenbei mich selbst zu verstehen?
Meine Frage: Wie weit abstrahierst Du beim Schreiben von dir? Wie viel Ruth packst du in eine Elisa, einen Jonas, einen Hermann? Planst du, etwas von dir selbst zu erzählen, eigene Schlüsselerlebnisse einzuflechten, oder denkst du ganz innerhalb deines Plots?

Ich gaukele mir vor, komplett innerhalb meiner Figuren zu schreiben. Du weißt ja, wie lange ich Elisa suchen musste, weil sie so vollkommen anders ist als ich. Da konnte ich – vom Gefühl her – nichts aus meiner eigenen Erfahrungswelt schöpfen. Jetzt, wo ich sie endlich gefunden habe, ist sie ein komplexes Ganzes und ich habe mir inzwischen schon den einen oder anderen Gedanken von ihr ausgeliehen. Was mir sehr gut getan hat.
Und Jonas, Joram und Hermann, all meine Männer, obwohl sie mir so viel leichter fallen als die Mädels, sehe ich eigentlich auch nicht als Facetten meiner eigenen Persönlichkeit – vermutlich sind sie trotzdem genau das und ich mache es mir nur nicht bewusst.
Aber „die kleine Ruth“ habe ich noch nirgendwo in meinen Kinderbüchern absichtsvoll verpackt. Wobei sich ja immer die Frage stellt, wie sehr wir überhaupt jemals von uns selbst abstrahieren können. Ich erwarte von einem Autor, dass er in hohem Maße bereit und auch fähig ist, sich in Fremdes einzufühlen und genau an die Punkte vorzudringen in der Lage ist, die das Fremde zum Fremden machen. Wenn ich das Handeln und die Gedanken eines Amokläufers, Verführers oder Schafes nachvollziehen kann, hat der Autor gut gearbeitet. Er wird dabei aber immer auf das zurückgreifen müssen, was er selber fühlt und denkt, eben um über die Sprache eine Brücke zu dem zu schlagen, was eigentlich nicht zu verstehen ist. Vermutlich muss man sich selber ziemlich genau im Blick haben und außerdem noch ehrlich mit sich selbst sein, um sich, wie du so schön formulierst, beim Schreiben tausendfach selbst zu begegnen. Wenn ich also genau das leugne, hinke ich dir in Wahrheit einfach hinterher.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bittedanke gleichfalls.

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