Freitag, 8. Juni 2012

Die Kleine Frau Babette und Herr Mann: die Entstehungsgeschichte

Eine Liebesgeschichte für Kleingebliebene und Großgewordene

(von Nikola Huppertz)

Ruth und ich lernten uns durch eine technische Panne bei der Registrierung für ein Kinderliteraturforum kennen, kamen ins Gespräch ... und das Forum wurde für uns weitgehend überflüssig - wir hatten einander gefunden.
Auf einmal gab es da eine Kollegin, eine Freundin, die nicht nur verblüffend ähnliche biographische Wurzeln hatte wie ich, sondern auch ein verblüffend ähnliches Selbstverständnis als Autorin. Wir mussten uns in unserer Auffassung vom Schreiben nicht erklären, uns nicht verteidigen, keine falschen Rücksichten nehmen, denn wir merkten beide sofort: Hier ist jemand, der genau dasselbe will wie ich.
Nur, was war das eigentlich? Welche Inhalte verbargen sich hinter diesem diffusen Gefühl von geteiltem Literaturverständnis?
Wir wollten über Dinge schreiben, die etwas Universelles transportieren. Über etwas, das alle angeht. Über die grauen und die bunten Seiten des Lebens, über Traurigkeit und Glück, über Einsamkeit, Freundschaft und Liebe.
Wir wollten Geschichten erzählen, die jenseits von Alters- und Zielgruppen Gültigkeit haben. In denen jeder genau das findet, was für ihn gerade von Bedeutung ist, weil das Lesen und das Leben so eng ineinandergreifen. Zum Beispiel mit Hilfe von Figuren, die nicht Kinder sind, nicht Jugendliche und nicht Erwachsene, sondern einfach Menschen.
Wir wollten Texte verfassen, die sich nicht abnutzen. Die so viele Lesarten enthalten wie es Leser gibt. Die hinter einer schon für sehr junge Kinder greifbaren Handlungs- und Sprachebene auch etwas für ältere Leser (und Leber) bereithält: Ein besonderes Wort. Ein Gefühl. Einen Gedanken. Eine Merkwürdigkeit.
Etwas, das einen innehalten und die Augen reiben lässt. Etwas, über das man bei einem Ideen bringenden Tee noch lange nachdenkt. Etwas, über das man sich seinen eigenen Reim macht und kichernd sagt: „Zu komisch!“
Und wir haben es einfach getan. Haben all das gemeinsam aufgeschrieben. Haben staunend verfolgt, wie SaBine unsere inneren Bilder aufs Wunderbarste sichtbar gemacht hat. Haben mit einem glücklichen Prickeln begrüßt, was schließlich dabei herausgekommen ist.
Eine Liebesgeschichte für Kleingebliebene und Großgewordene.



Vier Jahreszeiten in einem Sommer
(von Ruth Löbner)

Wir kannten uns ein knappes halbes Jahr, als Nikola mir von dem Angebot erzählte, für Arena ein Jahrbuch mit Illustrationen von SaBine Büchner zu verfassen. Sie war extrem skeptisch, ob sie sich so ein Mammutprojekt zumuten sollte.
„Gerne auch mit einem zweiten Autor an Ihrer Seite“, zitierte sie mir die Worte des Verlags. Dann gab es diesen Moment der Stille zwischen uns. Natürlich lag es auf der Hand, dass wir das Buch zusammen schreiben. Aber würde unsere intensive, jedoch noch sehr junge Freundschaft ein gemeinsames Projekt verkraften? Wie schreibt man überhaupt im Team? Vielleicht würden wir uns verkrachen und damit aufs Spiel setzen, was gerade erst so vielversprechend zwischen uns begonnen hatte?
Im Grunde war es da aber schon zu spät. Während dieser 30 Sekunden Schweigen am Telefon wussten wir beide, dass wir es tun würden.
Was dann folgte, lässt sich nur als Rausch bezeichnen. Einen Sommer haben wir für die 366 Geschichten gebraucht, die wir eigentlich nebenher, auf ein ganzes Jahr verteilt, hatten schreiben wollen. Aber ein „Nebenher“ gab es bald nicht mehr. An manchen Tagen sind 4 oder 5 Geschichten entstanden – jeweils! Von der Kleinen Frau Babette, verfasst in einem klitzekleinen Arbeitszimmer hoch über dem Marktplatz von Linden, und von Herrn Mann, bei Amselgepiepse vor dem offenen Fenster im ländlichen Rheydt. Jede Geschichte wanderte brühwarm durch den virtuellen Äther und kam meist mit viel Lob und kleinen Anmerkungen wenige Minuten später wieder zurück.
So schreibt man also im Team.
Als es langsam unübersichtlich wurde, half uns ein Wiki, Jahreszeiten, Feste und Geschichtenzyklen unter Kontrolle zu halten. Und als Hermann und Babette sich endlich begegnet waren, fingen wir an, halb fertige Geschichtengerüste mit fehlenden Dialogzeilen hin und her zu schicken. Denn eines war klar: Alles, was Babette sagt, musste von Nikola geschrieben werden, auch wenn die Perspektive der Geschichte die von Hermann war. Und jedes Stottern von Hermann in Babettes Geschichten würde am Ende meiner Feder entholpert sein.
Draußen war zwar Sommer, aber in unseren Arbeitszimmern haben wir wild durcheinander Puschen gefilzt, Kastanienmännchen gebastelt und Stürmen getrotzt, wir haben Silvesterraketen gezündet, Hummeln gezählt, unsere Figuren in Karnevalskostüme gesteckt und versucht, Herrentorte zu ergattern. Irgendwann war es dann soweit: Wir hatten sie beisammen, die 366 Miniaturen, ein alles umfassendes Geschichtenjahr miteinander durchlebt - und in der echten Welt war immer noch Sommer.
Nein, wir haben uns über dem Projekt nicht verkracht, Nikola und ich. Die neue Aufgabe, vor der wir an seinem Ende standen, lautete, uns so sanft wie möglich auseinanderzuheddern und wieder tauglich für den Alltag auf einem einzigen Paar Füße zu werden, was uns einigermaßen gelungen ist. Hier und da sind aber noch Verwachsungsspuren zu erkennen, ungezählte innere und eine äußere: „Die Kleine Frau Babette und Herr Mann“. 


Samstag, 8. Oktober 2011

Werkstattbericht


Liebe Nikola,

im Austausch mit Kollegen fasziniert mich immer besonders, auf welch unterschiedliche Arten Texte entstehen. Manche scheinen ein „Diktat der Muse“ zu sein, das im kreativen Rauschzustand nur noch notiert werden muss, andere sind hart erkämpft, mit Schreibblockaden belastet und im Schneckentempo niedergeschrieben, wieder andere sind akribisch vorbereitet, genauestens durchkonstruiert und dann präzise ausgeführt.
Es haben sich regelrechte Fronten gebildet zwischen den sogenannten Planern und den Bauchschreibern, die argumentativ jeweils die kuriosesten Vorteile für sich in Anspruch nehmen und nicht selten mit ebenso kuriosen Vor-ur-teilen der „Gegenseite“ begegnen. Ich finde eine Gegenüberstellung und Bewertung der verschiedenen Herangehensweisen sehr müßig und überflüssig. Solange mich die Texte überzeugen, ist in meinen Augen alles legitim. Interessieren tut mich der Entstehungsprozess dennoch – oder grade deswegen. 
Natürlich macht jeder Autor nicht immer die gleichen Erfahrungen mit seinen Texten, zumal wenn er, so wie wir, stark divergierende Genres bedient, etwa Roman und Bilderbuch. Aber gewisse Muster beim Arbeiten kennt sicherlich jeder Schreiber.
Ich würde gerne in deiner Werkstatt Mäuschen spielen, mit dir einen Blick hinter die Kulissen werfen, wobei mich dabei einerseits die Tür deines Arbeitszimmers interessiert, hinter der sich die nach außen sichtbaren Abläufe des täglichen Schreibens abspielen, andererseits auch die Tür deines „Oberstübchens“, sprich: Ich möchte den kognitiven Prozessen beim Schreiben ein wenig auf die Schliche kommen. Magst du erzählen, wie du vorgehst, wenn ein neuer Text ansteht?

Liebe Ruth,

da ich ja gerade einen neuen Roman beginne, bin ich ganz nah dran am Entstehungsprozess – insbesondere an dem, was der eigentlichen Niederschreibphase vorausgeht. Und das hilft mir sehr bei der Beantwortung Deiner Frage, denn mir ergeht es oft so, dass ich, wenn ich einen Text fertiggestellt habe, gar nicht mehr rekonstruieren kann, wie es eigentlich mit ihm angefangen hat. Viel zu viel lagert sich da übereinander, als dass ich noch objektiv darauf zurückgreifen könnte, was sich ganz zu Beginn - roh und schemenhaft - in mein Ideenstübchen geschlichen hat, und wie die einzelnen Schritte hin zu dem, was daraus geworden ist, ausgesehen haben.
Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es ziemlich lange dauert, bis überhaupt etwas sichtbar wird oder gar ein Exposé plus Leseprobe entsteht. Insbesondere bei Romanen ist es ja nicht nur eine einzige Idee, die die Geschichte triggert, sondern ein ganzes Gefüge von Motiven, Figuren, zwischenmenschlichen Systemen und inneren Befindlichkeiten, die man irgendwie in Handlung und Sprache „übersetzen“ muss, um sie anderen mit-zu-teilen. Die einzelnen Puzzlesteine „finde“ ich auch meistens gar nicht in meinem Arbeitszimmer, über meinem Notizbuch oder am Rechner. Sie überkommen mich bevorzugt beim Duschen oder auf meiner Standard-Spaziergeh-Runde über den Lindener Berg – in Form eines inneren Bildes, eines Schlüsselbegriffs oder einfach einer Stimmung, die ich zum Ausdruck bringen möchte. Bis ich in der Lage bin, diese Ideen schriftlich festzuhalten, muss ich sie jedoch erst einmal in Worte fassen, zunächst stumm für mich selbst (das ist die Phase, in der ich aufpassen muss, nicht gegen einen Baum zu rennen, in die falsche U-Bahn zu steigen oder den halben Einkauf zu vergessen), dann auch gerne im vertraulichen und konspirativen Gespräch, weil man die Dinge dafür noch genauer auf den Punkt bringen muss und eventuelle Unstimmigkeiten leichter entlarvt. Gleichzeitig entwickeln sich die Motive kontinuierlich weiter, werden konkreter, fassbarer, verbinden sich miteinander zu einem Ganzen und brennen sich immer tiefer in meine Vorstellungskraft ein, bis ich sie schließlich – vergleichsweise knapp und wahrscheinlich nur für mich selber les- und nachvollziehbar - in mein Notizbuch pinsle. Und obwohl ich dann vom fertigen Roman noch eine Unendlichkeit entfernt bin, stellt sich an diesem Punkt ein allererstes Gefühl von „Wow, ich hab da was geschaffen!“ ein.
Und bei Dir?

Die erste Idee zu einer neuen Geschichte bekomme ich meistens auch außerhalb meines Arbeitszimmers. Danach brüte ich allerdings fast nur noch dort über dem entstehenden Text. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die von ihren Geschichten und Figuren im Alltag oder in ihren Träumen verfolgt werden. (Wofür ich sehr dankbar bin.)
Ich glaube, das liegt daran, dass ich meine Texte ins Notizbuch „verbanne“, wo ich sehr ausführlich in einer Art schriftlichem Selbstgespräch alles festhalte, was mir zum Text einfällt. Anfangs sind das Figureneigenschaften, Beziehungsdynamiken und Hintergründe. Später, wenn das Exposé steht, gehe ich mit dem Notizbuch in die konkrete Szenenplanung, immer Stück für Stück, jeden Tag, bevor ich weiterschreibe. Die handschriftlichen Seiten überwiegen die getippten immer, bei Bilderbüchern um ein Vielfaches, aber auch bei meinen Romanen ist das Verhältnis eindeutig. Was ich da festhalte, ist nicht nur für mich verständlich, sondern wäre es, wenn ich es zuließe, für jeden. Durch diese Ausführlichkeit bleiben mir meine Überlegungen auf lange Sicht nachvollziehbar. Ich kann jederzeit rekonstruieren, warum ich mich für die eine und gegen die andere Lösung entschieden habe. Oder warum ich mit einem Kapitel unzufrieden war und es wieder gelöscht habe. Dadurch, so meine Theorie, ist mein Hirn während des restlichen Tages nicht ständig im Geschichten-Bereitschaftsdienst.
Die eigentliche Schreibarbeit besteht dann in der Umsetzung meiner Überlegungen und ist ein gesonderter kreativer Akt. Ich empfinde es immer so, dass ich mir im Notizbuch die konzeptuelle Grundlage erarbeite. Ich bin da wesentlich strenger und analytischer mit mir, als wenn mir schon tolle Formulierungen „einschießen“ und ich nur so drauflos schreibe. Logische Lücken und Ungereimtheiten stehen sozusagen nackt und ohne Schminke da und werden entsprechend schnell enttarnt und aussortiert.
Wenn ich schließlich weiß, was in die nächste Szene soll, kann ich mich zu 100% auf die Sprache und die Details konzentrieren. Nichts desto trotz komme ich oft nur langsam voran und formuliere dauernd neu. Adrenalinstöße sind selten, aber dafür umso willkommener, und sie überfallen mich beim handschriftlichen Konzipieren genauso wie beim eigentlichen Schreiben: Wenn eine Gedankenkette sich schließt, ein besonders passendes Bild gefunden ist oder ich begreife, warum meine Figur an dieser Stelle so handeln muss und das eine ganz neue, stimmige Wende für den Plot bedeutet.
Diese „monologische“ Arbeitsweise ist für mich eigentlich nur zu toppen durch einen Dialog mit dem richtigen Menschen. Das nehme ich immer dann in Anspruch, wenn ich das Gefühl habe, mich allein nicht mehr weiter voran treiben zu können. Dann brauche ich Input von außen, um den Knoten zu lösen.

Das, was Du als „Figureneigenschaften, Beziehungsdynamiken und Hintergründe“ beschreibst, halte ich natürlich auch ausführlich schriftlich fest. Ins Notizbuch gelangen dabei eher die gesammelten Ideen, stichwortartig und teilweise noch ziemlich unsortiert, dann folgt i. d. R. mein erster Schritt am Computer, bei dem ich das Ganze „in Form“ bringe und zu jeder Figur und ihrem persönlichen Hintergrund einen eigenen Text verfasse. Dasselbe ziehe ich mit der geplanten Rahmenhandlung durch, was mich zwingt, ganz bestimmte Weichenstellungen von vorneherein festzulegen und aus der Unendlichkeit von Möglichkeiten die logischsten, stringentesten und für die Entwicklung der Hauptfigur unverzichtbarsten auszusuchen. Dadurch ergeben sich schon einige markante Eckszenen, die mir so klar vor dem inneren Auge stehen, dass ich sie später eigentlich nur noch abzurufen brauche, wenn sie an der Reihe sind. Andere Szenen, die die Strecken zwischen diesen Höhe- und Wendepunkten füllen, sind noch sehr viel unklarer, obwohl sie genauso wichtig sind. Sie bieten mehr Spielraum, um bestimmte Aussagen in Handlung umzusetzen, Entwicklungen voranzutreiben oder Gefühlszustände darzustellen. Hier muss ich mich ebenfalls jedes Mal hinsetzen und Schrittchen für Schrittchen planen. Ich brauche, bevor ich anfange, sie zu schreiben, zumindest eine Ausgangslage und einen Zielpunkt der inneren Befindlichkeit, ein geeignetes Setting und die konzeptionellen Leitbegriffe, die über der Handlung schweben. Die schriftliche Umsetzung benötigt dann meist trotzdem noch eine Menge Zeit und ist manchmal auch mit Versuch und Irrtum verbunden, mit einem allmählichen Annähern an das, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Schreiben ist bei mir ein sehr langsamer Prozess, aber wenn ich eine Szene abschließe, habe ich auch das Gefühl, sie mit Gründlichkeit bearbeitet und nicht eher losgelassen zu haben, bis sie auf mich wirklich stimmig wirkte. Und interessanterweise schreibe ich, wenn ich einen Roman einmal zu Ende gebracht habe und mich ans Schleifen mache, auch nach zeitlicher Distanz nur noch sehr wenige von ihnen über Details und Feinheiten hinaus um.

Ja, das kommt mir alles sehr bekannt vor. Beim Szenen-Abschließen würde ich gerne einhaken. Ich finde es faszinierend, wie das eigene Gespür für die Stimmigkeit eines Textes offenbar zuverlässig und hartnäckig im Hintergrund arbeitet. Ich will nicht behaupten, dass ich immer klar sehe, was nicht funktioniert, aber dass etwas nicht funktioniert, macht sich emotional sehr stark bemerkbar. Und ich gehöre, wie du ja auch, zu denen, die mit so einem Gefühl dann nicht weiterschreiben können. Dabei frage ich mich, ob das nicht manchmal sinnvoller wäre. Die Zügel ein wenig lockerer lassen, erst mal nach vorne schreiben, vielleicht enthüllt ja eine spätere Entwicklung, wie sich die aktuelle Szene verbessern ließe – aber wenn mich nicht massivster Zeitdruck dazu zwingt, kann ich mit „unfertigen“ Szenen im Nacken nicht weitermachen.
Gottlob gibt es Testleser, die meist den Finger auf genau die Stellen legen, die ich selber schon diffus ins Auge gefasst hatte. Und die dann mit viel mehr Klarheit sagen können, was das Problem ist.
Ich glaube, dieses Beharren auf einem beständigen Endresultat (schon die erste Szene soll sitzen und am Ende noch 1:1 so da stehen) basiert bei mir auf der Vorstellung (oder dem Bedürfnis danach), dass der Text so etwas wie eine eigene Wahrheit hat – oder sie konstituiert. Wenn ich schreibe, dass es in der ersten Szene regnet, dann regnet es. Der innere Film, den ich damit schaffe, gleicht einer Erinnerung. Ich kann in einem späteren Überarbeitungsgang nicht den Regen in Sonnenschein umschreiben, ohne ein Gefühl von Realitätsverlust zu erleiden. „Es hat doch aber geregnet!“, kommt der Protestschrei. Und auch, wenn das vielleicht noch nicht mal ein besonders wichtiges Detail ist, ist es doch so elementar mit der Geschichte verbunden wie es die „Wetterkulisse“ einer Erinnerung ist.

Ganz genau! Diese inneren Bilder, mit denen man als Autor zunächst einmal ganz für sich allein ist, sind sozusagen das Fundament, auf dem die Geschichte szenisch und sprachlich aufgebaut wird. Und jedes entstehende Stockwerk muss statisch daran angepasst und Stein auf Stein darauf angeordnet werden, sonst kann es passieren, dass alles in sich zusammen kracht. Insofern schreibe ich auch nur äußerst ungern auf Lücke, wenngleich es manchmal sicher bequemer wäre, eine unfertige Szene beiseite zu schieben und erst mal weiterzumachen.
Ich finde Deinen Vergleich der inneren Bilder mit einer Folge von Erinnerungen sehr passend. Man hat lange mit diesen Bildern gelebt, sie haben für einen eine subjektive Wirklichkeit erlangt. Insofern ist es auch immer eine heikle und sehr sensible Angelegenheit, wenn weitere Personen ins Spiel kommen und – beispielsweise während des Lektorats – an einzelnen Szenen nachträglich rumgefeilt werden muss. Denn ein Text erzeugt in niemandem dieselben Bilder, ist in einem bestimmten Maße immer mehrdeutig, und die Vorstellungen verschiedener Personen – Autor, Testleser, Lektor und später auch Rezipient – werden einander nur vage ähneln. Rückmeldungen sind dabei ein Segen, wenn sie helfen, Szenen noch mal quasi „von außen“ zu betrachten oder ein Setting, das ich aufgrund meiner verselbständigten Vorstellungen vielleicht nur unzureichend dargestellt habe, klarer auszustaffieren. Aber wenn sie mit dem, was Du den „inneren Film“ nennst, nicht vereinbar sind, wird es problematisch.

Natürlich. Ich denke, da muss man dann ganz klar Grenzen setzen und sich eventuell einen Kompromiss überlegen. Aber meistens sind die Vorschläge im Lektorat ja zum Glück dergestalt, dass sie nicht die ganze Text-Welt durcheinanderwirbeln. Wobei … aber lassen wir das lieber.
Ich habe vor ein paar Tagen eine eigenartige Beobachtung gemacht. Es ging in meinem Text um einen Weg, den meine Figur Elisa entlangläuft und um die Frage, ob sie diesen Weg kennt oder nicht. Ich habe mich für „ja“ entschieden. Die nächste Frage war dann: „Woher kennt sie ihn?“ Und dann habe ich auf diesen Weg mehrere Stationen gelegt, die zu Elisas Alltag gehören, die ich aber in diesem Moment erst erschaffen habe, inklusive einer Nebenfigur mit Hutladen. Es macht alles in allem nur eine halbe Seite aus, aber diese halbe Seite hatte auf mich eine Art 3-D-Effekt. Als hätte ich vorher nicht rechts und nicht links geguckt, oder besser, als wäre Elisa bisher über ein weißes Blatt Papier gewandert.
Ich glaube, dass ich im ersten Anlauf, den ich mit einer Szene nehme, erst mal nur das sehe, was für die Szene unabdingbar ist. In einem zweiten, dritten, xten Schritt kommen die Details dazu. Manchmal, wie bei meinem Weg, sogar noch in einer zeitlichen Dimension, indem ich über die Routine der Figur ihre Vergangenheit konstituiere. Was mich zu einer Frage zurückgebracht hat, die mich schon vor vielen Jahren beschäftigt hat: Was existiert eigentlich in einem Text, wenn man es nicht hineinschreibt? Ich glaube, das Bild, das man sich vom Schreibprozess macht, ist doch, dass der Autor eine komplexe Welt vor seinem inneren Auge sieht, von der er dann Teile beschreibt. Ich glaube aber, dass es bei mir oft so ist, dass ich mir diese Welt er-schreiben muss. Dass da von alleine gar nichts ist, schon gar keine komplexe, klare Vorstellung. Ich zitiere mal meine Elisa und frage dich: „Bin ich durchgeknallt?“ Oder kennst du das? (Oder beides?)

Beides ... J
Ich platziere meine Figuren meistens in eine halb-reale Welt. Das heißt, die einzelnen Stationen, die sie passieren, gibt es wirklich. Ich weiß, wo sie wohnen, wo sie sich gerne aufhalten, was sie dabei beobachten können. Dabei bediene ich mich ungeniert an meiner eigenen Umgebung, teilweise vermixt mit Orten, die für mich als Kind, Jugendliche, junge Erwachsene von Bedeutung waren oder ein bestimmtes Gefühl ausgelöst haben.
Die Abbildung und Anordnung dieser Stationen ist allerdings nicht 1:1, sondern auf die jeweilige Geschichte zugeschneidert. Es wäre also ein aussichtsloses Unterfangen, wenn jemand mit dem Stadtplan versuchen würde, die Wege meiner Figuren abzuschreiten. Für mich relevant sind einzelne markante Ausschnitte, die ich bereits vor dem Schreiben ziemlich genau vor mir sehe. Wie ich überhaupt das ganze Drumherum, sei es das Stadtbild, Landschaften, das Wetter oder die Geräuschkulisse sehr viel deutlicher vor Augen (und Ohren) habe als zum Beispiel die Gesichter meiner Hauptfiguren. Anders ist es aber mit Wohnungen, die ja einen wesentlichen Teil der Szenerie darstellen. Sie einzurichten ist für mich ein Bestandteil der Figurencharakterisierung, und bei ihnen geht es mir ähnlich wie Dir in Deiner Straßenszene. Ich habe vorher zwar von Anfang an einen groben Wohnstil vor Augen, aber die Einzelheiten – vom selbstgebauten Backsteinregal über die Bücher und CDs auf dem Nachttisch bishin zum Poster an der Badezimmertür – materialisieren sich erst beim Schreiben. Und wirklich durchgeknallt wird es, wenn man hinterher im „echten Leben“ anfängt, die in der Geschichte verwendeten Requisiten „wiederzufinden“ - Ach, das ist doch ... oder: So ähnlich könnte ... Da merke ich dann, wie sehr die inneren Vorstellungen die Wahrnehmung der äußeren Welt steuern und umgekehrt. Geht Dir das auch manchmal so?

Ja. Ich hab ab und zu regelrechte Flashs, dann erinnert mich irgendwas im Alltag an ein Detail aus einer meiner Geschichten, und ich denke: „Darüber hab ich doch geschrieben!“ Oft brauche ich einen Moment, um drauf zu kommen, was das jetzt war, aber dann finde ich meistens die Textpassage in meinem Kopf (natürlich nicht wortwörtlich), um die es ging. Offenbar werden die Geschehnisse oder auch die Orte und Utensilien einer Geschichte irgendwie im Gehirn getaggt, mit „geschriebener Welt“ oder wie immer man das nennen will. Diese „kognitiven Konglomerate“, deren Zentrum uns verschlossen bleibt, aber die Peripherie preisgeben, gibt es ja öfter: Uns fällt ein Name nicht ein, wir wissen aber, dass er mit N anfängt. Wir haben vergessen, was wir tun wollten, wissen aber noch, dass es was mit dem Kühlschrank zu tun hatte. Wir erkennen ein Gesicht auf der Straße und erinnern uns nicht, wo wir dem Menschen schon mal begegnet sind, können aber sofort sagen, ob es ein angenehmer oder unangenehmer Anlass war. Usw. Die Welt der Geschichten wird offenbar als ebenso komplexe Einheit in ihrem Schöpfer abgespeichert. Mit der Zusatzinformation: Geschichte. Und auch, wenn wir nicht spontan drauf kommen, woher genau das Detail stammt, das in uns die Erinnerung auslöst, wissen wir doch, dass es seinen Ursprung in einem Text hat.
Dass du die Umgebung klarer vor Augen hast als die Physiognomie deiner Figuren, finde ich sehr interessant. Auch mir sind Gesichter lange unklar, manchmal für immer, oder zumindest bis zur ersten Skizze des Illustrators. Ich kann die Gesichtsausdrücke klar beschreiben, aber auf welcher „Grundsubstanz“ sie sich abspielen – da hab ich oft keine Vorstellung. Verrückt, dass so was überhaupt geht.

Die Gesichtszüge sind auch bei mir der Schwachpunkt. Ich „sehe“ die Szenerie meist aus den Augen des Protagonisten/ der Protagonistin, in dem oder der ich ja gerade ganz intensiv drinstecke. Nur manchmal wechsle ich für kurze Zeit in eine Außenansicht. Daraus folgt, dass ich Nebenfiguren häufiger ins Gesicht sehe als „mir“ selbst. Ihre Stimmen, ihre Bewegungen und äußere Merkmale wie Kleidung, Frisur und Accessoires sind für mich dabei jedoch leichter zu fassen als die reinen Züge. Eine Vorstellung des jeweiligen „Typs“ mit seiner entsprechenden Mimik habe ich aber immer, und es ist jedes Mal spannend für mich, ob der sich in den Illustrationen widerspiegelt.

Ja, die Illustrationen! In dem Moment, wo eine Figur in Form einer Illustration Gestalt angenommen hat, IST sie diese Gestalt. Allerdings merke ich jetzt, wo ich zum ersten Mal eine Reihe schreibe, dass ich mir trotz der Vignetten von Karsten Teich beim Schreiben weiterhin „echte“ Menschen vorstelle, also in einer Art Spielfilm denke. Es gibt dann allerdings auch „Standbilder“, Momente innerhalb einer Szene, die ich mir gut als Illu vorstellen könnte. Diese Standbilder besetze ich dann mit den Figuren des Illustrators. Aber sehr klar bin ich mir über das alles, offen gestanden, nicht!
Im Bilderbuch ist das allerdings anders. Hier gehe ich beim Schreiben sehr stark vom jeweiligen (vorgestellten) Bild aus und fertige auch immer einen mehr oder weniger genauen Illustrationshinweis an. Text und Bild müssen im Bilderbuch so passgenau aufeinander zugeschnitten sein, dass ich es mir gar nicht anders vorstellen kann, als vom Statischen, dem Bild, auszugehen und mit dem Text die Dynamik der Handlung zu schaffen. Ein Spielfilm im Kopf wäre da eher kontraproduktiv (ein Zeichentrickfilm natürlich genauso). Es geht darum, den entscheidenden Moment im Bild einzufangen und alle anderen Momente zu erzählen oder dem Weiterspinnen des Lesers zu überlassen.

Ja und nein. Beim Schreiben von Bilderbuchtexten habe ich auch eine Sequenz einzelner Bilder vor Augen. Ich halte mich mit Illustrationsanweisungen allerdings soweit es mein Geschriebenes erlaubt zurück, weil ich glaube, dass Illustratoren noch mal einen ganz anderen Blick auf die Geschichte einnehmen und andere Wege der Visualisierung erkennen als ich, die ich trotz aller bildlichen Vorstellungen stark in Worten, Geschehnissen und Innenwahrnehmungen denke.
Und damit bin ich bei einem Punkt gelandet, der mich im Moment sehr beschäftigt. Nämlich wie viel ich eigentlich von mir selber preisgebe, wenn ich beim Schreiben so intensiv in meine Figuren schlüpfe, ihnen meine Lebensumwelt, meine inneren Bilder und meine Sehnsüchte auf den Leib schreibe. Mein Eindruck ist: mehr als mir manchmal bewusst ist! Mal schöpfe ich aus eigenen Erfahrungen, mal bewege ich mich relativ losgelöst in der erfundenen Handlung, aber letztendlich verpacke ich dabei lauter Nikola-Facetten in Kostüme aus Fiktion. Vielleicht begründet das auch meine Abneigung gegen thematische Vorgaben und Zielgruppenfixiertheit. Vielleicht ist dieses tägliche Schreibtischritual, ist all das, was ich unter dem Begriff „Arbeiten“ zusammenfasse, nichts anderes als ein inneres Refugium, in dem ich mir tausendfach begegne, um eine glaubwürdige Geschichte erzählen zu können – und nebenbei mich selbst zu verstehen?
Meine Frage: Wie weit abstrahierst Du beim Schreiben von dir? Wie viel Ruth packst du in eine Elisa, einen Jonas, einen Hermann? Planst du, etwas von dir selbst zu erzählen, eigene Schlüsselerlebnisse einzuflechten, oder denkst du ganz innerhalb deines Plots?

Ich gaukele mir vor, komplett innerhalb meiner Figuren zu schreiben. Du weißt ja, wie lange ich Elisa suchen musste, weil sie so vollkommen anders ist als ich. Da konnte ich – vom Gefühl her – nichts aus meiner eigenen Erfahrungswelt schöpfen. Jetzt, wo ich sie endlich gefunden habe, ist sie ein komplexes Ganzes und ich habe mir inzwischen schon den einen oder anderen Gedanken von ihr ausgeliehen. Was mir sehr gut getan hat.
Und Jonas, Joram und Hermann, all meine Männer, obwohl sie mir so viel leichter fallen als die Mädels, sehe ich eigentlich auch nicht als Facetten meiner eigenen Persönlichkeit – vermutlich sind sie trotzdem genau das und ich mache es mir nur nicht bewusst.
Aber „die kleine Ruth“ habe ich noch nirgendwo in meinen Kinderbüchern absichtsvoll verpackt. Wobei sich ja immer die Frage stellt, wie sehr wir überhaupt jemals von uns selbst abstrahieren können. Ich erwarte von einem Autor, dass er in hohem Maße bereit und auch fähig ist, sich in Fremdes einzufühlen und genau an die Punkte vorzudringen in der Lage ist, die das Fremde zum Fremden machen. Wenn ich das Handeln und die Gedanken eines Amokläufers, Verführers oder Schafes nachvollziehen kann, hat der Autor gut gearbeitet. Er wird dabei aber immer auf das zurückgreifen müssen, was er selber fühlt und denkt, eben um über die Sprache eine Brücke zu dem zu schlagen, was eigentlich nicht zu verstehen ist. Vermutlich muss man sich selber ziemlich genau im Blick haben und außerdem noch ehrlich mit sich selbst sein, um sich, wie du so schön formulierst, beim Schreiben tausendfach selbst zu begegnen. Wenn ich also genau das leugne, hinke ich dir in Wahrheit einfach hinterher.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bittedanke gleichfalls.

Donnerstag, 7. April 2011

Das Selbstverständnis als Kinderbuchautor


Liebe Ruth,

bestimmt wird sie Dir auch häufig gestellt. Die Frage: „Warum schreiben Sie Bücher für Kinder?“ Und diese Frage bedeutet weniger: „Warum schreiben Sie Bücher?“ als: „Warum schreiben Sie ausgerechnet für Kinder?“
Wenn ich darüber nachdenke, was mich eigentlich dazu motiviert, stoße ich immer wieder auf meine eigenen Leseerlebnisse als Kind.
Kindheit – das ist die Zeit der ersten Male. Des Kennenlernens. Der prägenden Begegnungen. Als Erwachsene schlappen wir ja meistens ziemlich gemütlich auf asphaltierten Wegen dahin, aber hin und wieder erinnern wir uns vielleicht, wie wir als Kinder mit weit aufgerissenen Augen durch das unbekannte Dickicht gestapft sind und angefangen haben, uns unsere Pfade zu bahnen. Und welchen starken Eindruck alles, was uns dabei in die Quere kam, hinterlassen hat:
Die Menschen.
Die Natur.
Die Kultur.
Mit unseren ersten Büchern sind wir in geheimnisvolle Geschichtenwelten abgetaucht, wir haben unsere sprachliche Ausdruckskraft erworben, wir haben innere Bilder erschaffen, die uns nie wieder verlorengegangen sind. Und während wir allmählich größer wurden, hat die Literatur unsere Gedanken erweitert, sie hat uns vorangetrieben, sie hat uns manchmal auch an die Hand genommen und gesagt: Guck, du bist nicht allein.
All das können Bücher für Kinder. Und all das ermutigt mich, sie zu schreiben.

Liebe Nikola,

ich habe diese Zeilen von dir ein paar Tage mit mir herumgetragen und mich gefragt, was die prägenden Bücher meiner Kindheit waren. Zu meinem eigenen Erstaunen ist dabei eine sehr magere Bilanz herausgekommen. Ein paar Klassiker fielen mir ein, „Wo die wilden Kerle wohnen“, „Momo“ und „Jim Knopf“, auch Astrid Lindgren gab es natürlich in unseren Regalen - und ein kleines Pixi-Büchlein, das mich hauptsächlich aus optischen Gründen sehr beeindruckt hat: „Die Bergtrolle im Tal“. Überhaupt sind es vor allem die Bilderbücher, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind. (Und die, glaube ich, auch heute meine Lieblings-Disziplin beim Schreiben sind.)  Alles andere habe ich mehr oder weniger vergessen. Und ich fürchte, dass ich die Literatur nicht derartig als Augenöffner empfunden habe, wie du es so wunderschön beschreibst.
Als ich dann selber Kinder hatte, war ich mir der literarischen Schätze auch nicht bewusst, die auf mich und meine Töchter warteten, sondern habe eher zufällig das vorgelesen, was uns in die Finger fiel. Geschenkt Bekommenes vor allem. Vieles davon hat mich in seiner Belanglosigkeit erschüttert. Und ich muss gestehen, dass meine Motivation, neben der Erwachsenenliteratur nun auch Texte für Kinder zu verfassen, zu einem großen Teil dem Bedürfnis entsprang, es besser machen zu wollen.
Das hat sich inzwischen, wo ich die riesige Bandbreite an Kinderliteratur zumindest ein bisschen besser kenne, sehr verändert. Ich habe großartige Kinderbuchautoren entdeckt, die meine anfängliche Überheblichkeit im Keim erstickt und mich so etwas wie Demut gelehrt haben.

Ich habe überlegt, welches das Buch war, das ich als allererstes von vorne bis hinten selbst gelesen habe. Soweit ich mich erinnere, war es „Das große Wilhelm-Busch-Album“ meiner Eltern. Also gar keine Kinderliteratur!
Die Auswahl an Kinderbüchern, die ich zu Hause hatte, war nicht überwältigend groß, aber auch nicht klein, und es waren sehr schöne Sachen dabei. Astrid Lindgren natürlich, Roald Dahl und Gina Ruck-Pauquèt, um einige zu nennen, die mich damals dermaßen beseelt haben, dass ich mich immer wieder in ihre Geschichten hineinbegeben habe -  auch an Tagen, an denen ich traurig war oder unzufrieden mit mir und der Welt. Es gab auch einige Bücher, die ich nach ein paar Seiten gnadenlos zugeschlagen und nie wieder angerührt habe - und wenn ich sie mir heute anschaue, überkommt mich immer noch das Gähnen und ein Empfinden von emotionaler Leere und Unerheblichkeit.
Viele Perlen der Kinderliteratur entdecke ich aber auch erst jetzt als Erwachsene, und jedes Mal denke ich: WOW! Eine solch bewegende Literatur zu schreiben, darum bemühe ich mich ebenfalls. Und hoffe, dass es mir gelingt.

Und dass die Kinder das rauslesen, was wir reingeschrieben haben – oder vielleicht auch etwas ganz anderes, das finde ich genauso schön (solange es nicht eine Lesart unserer Texte ist, die wir übersehen haben, ein Missverständnis, eine Schlampigkeit). Ansonsten mag ich die Vorstellung, dass Geschichten sich verselbständigen und jedem etwas anderes bedeuten. Ich schreibe auch nie explizit für jemanden. Ich habe meistens keine Leser vor Augen, wenn ich plotte oder ausformuliere. Es ergibt sich eigentlich alles aus der Geschichte heraus. Natürlich finde ich hin und wieder Vokabeln, die mir für Zehnjährige unpassend erscheinen, da ändere ich dann. Aber sobald die Keim-Idee einer Geschichte geboren ist, schreibe ich ohne Leser im Hinterkopf. Geht dir das auch so?

Das geht mir während des Schreibprozesses ganz genauso. Das Alter meines Protagonisten/meiner Protagonistin ist natürlich ein Anhaltspunkt für den zukünftigen Leserkreis – aber nur so herum, nicht umgekehrt. Sprache, Gedankengänge, Konflikte ergeben sich für mich aus der Figur und ihrer Persönlichkeit, nicht aus der Ausrichtung auf ein festgestecktes Lesepublikum. Und ich freue mich, wenn hinterher nicht nur eine Altersgruppe und nur ein Geschlecht Gefallen an der Geschichte findet, sondern jeder Leser etwas darin entdecken kann, was für ihn bedeutsam ist. Womit wir bei den Leerstellen eines Buches sind, die für mich elementar zum Leseerlebnis dazugehören. Eine Erzählung lebt ja nicht nur vom Ausgesprochenen, sondern auch vom Verschwiegenen, nicht nur von Erklärungen, sondern auch von Unwägbarkeiten, nicht nur von Antworten, sondern vor allem auch von Fragen. Insofern wird der Leser, wenn die Geschichte erst einmal fertig ist, sehr wichtig für mich, weil Literatur genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie in die Öffentlichkeit gelangt, eine Form der Kommunikation ist.

Ja, bloß schade, dass man in den allermeisten Fällen die Antwort nicht mehr zu hören bekommt.

Für mich sind Lesungen ein ganz wichtiger Bestandteil der schriftstellerischen Arbeit, weil bei ihnen die unmittelbare Begegnung mit den Lesern stattfindet. Die spontanen Reaktionen der zuhörenden Kinder und ihre weiterführenden Ideen zur jeweiligen Geschichte sind für mich sehr aufschlussreich. Ich habe schon öfter erfahren, dass sie sich überraschend offen dazu äußern und ihre durch das Buch ausgelösten Gefühle und Gedanken ohne Hemmungen preisgeben. Manchmal kommen dabei ganz existenzielle Dinge zur Sprache. Das finde ich sehr berührend.

Bei meinen wenigen Lesungen habe ich die Kinder eher als zurückhaltend erlebt. Wobei sich unsere Lesungskonzepte ja auch sehr unterscheiden. Du bindest die Kinder stärker ein, stellst zwischendurch Fragen,  animierst zum Weiterspinnen. Ich neige eher zum Purismus und lese den Text, erzähle zwischendurch, wie es weitergeht. Am Ende ist dann bei mir Fragestunde. Und die Fragen bezogen sich bisher eher auf das Dasein als Kinderbuchautor (wenn sie von den Lehrern mit vorbereitet waren) oder auf die Illustrationen, die ich immer an die Wand werfe, aber nicht so sehr auf die Geschichte. Einmal habe ich einen Fanbrief bekommen, das war etwas ganz Besonderes. Ansonsten empfinde ich noch die Rezensionen als dialoghaft, wobei die ja meistens von erwachsenen Lesern stammen. Was ich aber auch interessant finde.

Ich auch, zumal sie meistens andere Aspekte hervorheben als Kinderrezensionen. Es ist spannend zu sehen, was den Kindern ins Auge sticht, die ja im Lesen wie im Leben noch Anfänger sind, und was den erwachsenen Lesern mit ihrer langjährigen Büchererfahrung.
Dazu kommt, dass Rezensionen durch erwachsene Kritiker nun mal stark beeinflussen, ob und wie ein Buch in der Öffentlichkeit beachtet wird. Kinderbücher führen in den Feuilletons ja leider ein Schattendasein, oft sind sie darin überhaupt nicht zu finden. Schon eher begegnet man ihnen in Eltern- oder Lehrermagazinen, und häufig werden sie nach ihrer pädagogischen Einsetzbarkeit eingeordnet.
Erstmal ist ein Buch aber ein Buch, also Literatur, und deren Bestimmung ist es, Leser zu erreichen, zu berühren und ins Gespräch zu bringen.

Damit wären wir wieder bei der Frage „Für wen schreibe ich eigentlich?“ Es trifft die Sache für mich zwar immer ganz gut, zu sagen: Ich schreibe für die Geschichte, aber natürlich ist das nur die halbe Wahrheit. Viele perfekte Geschichten in der Schublade zu bunkern würde mich sicher nicht glücklich machen. Als ich meine „Karriere“ mit den Auftragsarbeiten angefangen und nach vorgegebenen Themen Texte verfasst habe, da habe ich noch viel mehr für die Kinder geschrieben, von denen ich dachte, dass sie diese Themen vermutlich gut finden. Vielleicht auch nur für den Verlag? Ich bin ganz ehrlich und sage: Ich weiß es nicht. Mich selber haben sie jedenfalls nicht angesprochen. Ich hatte zu diesen Themen einfach nichts zu sagen. Ich habe dann sehr schnell aufgehört, diese Art von Text zu verfassen und nur noch Geschichten geschrieben, deren treibende Kraft ich selber war. Was du ja von Anfang an konsequent gemacht hast. Seitdem geht es mir mit meiner Arbeit viel besser. Man kann also sagen, dass ich in gewisser Hinsicht (zumindest auch) für mich schreibe. Und die Vorstellung, dass andere Erwachsene etwas in meinen Büchern finden, das sie berührt oder anspricht, das gebe ich jetzt mal ganz unumwunden zu, die finde ich schön und bereichernd. Ich bin ja selber erwachsen.
Ich glaube, dass Texte auf Kinder viel unmittelbarer wirken. Und dass deswegen eine gelungene Gestaltung, ein gekonnter Spannungsbogen, sprachliche Raffinessen, eben all das, womit wir uns tagtäglich solche Mühe geben, die Kinder zwar erreicht, aber oft ohne erkannt zu werden. Und lobbesessen wie ich nun mal leider seit meiner frühesten Kindheit bin, fehlt mir das dann. Das „hole“ ich mir von Erwachsenen.
Aber den emotionalen Einfluss, den Texte (im positiven Sinne) in eben dieser Unmittelbarkeit auf Kinder nehmen können, der ist durch nichts zu übertreffen, auch nicht durch die tollste Rezension. Ein Kind, das mir sagt, dass einer meiner Texte irgendwie wichtig in seinem Leben war oder ist, das wäre das Größte.

Natürlich schreibe ich - auch - für mich selber, und das nicht nur wegen des Vergnügens, das der Schreibprozess bereiten kann (es kann manchmal auch ein innerer Kampf daraus werden, und ich „muss“ es trotzdem tun). Beim Schreiben geht es um mehr, es geht um Fragen, die ich mit mir herumtrage, um Gefühle, um Zwischenmenschlichkeiten, um Identität. Und diese Dinge sind Universalien, sie gehen jeden etwas an. Geschichten gehören für mich zum Menschsein. Sie erzählen vom Leben und lassen Leerstellen, die jeder mit seinen eigenen Erfahrungen füllen kann. Insofern empfinde ich es nicht als halbe Wahrheit, wenn Du sagst: „Ich schreibe für die Geschichte.“ Denn das heißt nichts anderes als: „Ich schreibe für uns alle.“

Der Text also, der sich seine Zielgruppe selber sucht. Wobei ich das – nach anfänglicher begeisterter Zustimmung – doch einschränken muss. Denn die Türen der Kinderliteratur stehen bei dieser Suche viel weiter offen als die der Erwachsenenliteratur. Viele Bilderbücher zum Beispiel richten sich ja explizit an Kinder und Erwachsene gleichermaßen, es gibt illustrierte Gedichte von großen (Erwachsenen-) Literaten und Kindergeschichten, die unter der Oberfläche eine zusätzliche Ebene für erfahrenere Leser bieten. In die entgegengesetzte Richtung sieht das aber anders aus. Ich würde behaupten, dass das Gros der Erwachsenenliteratur Kinder nicht erreichen kann bzw. sie sogar verstören würde. Und das – interessanterweise – vor allem in Texten, in denen es um Kinder geht. Kindheit wird für Erwachsene ganz anders aufbereitet als in der Kinderliteratur.
Ich habe mich oft gefragt, worin der Unterschied zwischen den Figuren in meinen Kindertexten und der sechsjährigen Protagonistin in meinem Erwachsenenromanprojekt liegt. Eine endgültige Antwort habe ich noch nicht gefunden, aber er manifestiert sich auf allen Ebenen: Thematisch, perspektivisch, erzähltechnisch … sogar die Kindersprache in Dialogen setze ich anders ein. Ein falsch gesprochenes Wort in einem Text für Kinder wirkt schnell despektierlich, im besten Fall witzig. Aus dem Mund eines Kindes in einem Erwachsenentext hingegen kann es die Authentizität erhöhen, etwas über das Alter verraten … Auch wie mit Subtilität und Explizitheit umgegangen wird, unterscheidet sich sehr.
Während eines Wochenendseminars, das den wunderbaren Titel „(Für) Kinder erfinden“ trug, hat Burkhard Spinnen in einem Randgespräch davor gewarnt, unter Pseudonym zu veröffentlichen, wenn man verschiedene Genres bedient. Er nannte in diesem Zusammenhang den Begriff der schriftstellerischen „Schizophrenie“. Mich hat das damals sehr beeindruckt. So sehr, dass ich sofort entschieden habe, mich von meinem Pseudonym zu trennen. Ich hatte es vor allem deshalb gewählt, weil ich dachte, es gäbe einem Autor der Erwachsenenliteratur gegenüber Vorurteile, wenn er „aus dem Kinderbuch“ kommt. Dass ich diese Vorurteile nur untermauere, wenn ich nicht den Mut habe, als literarischer Zwitter in Erscheinung zu treten, habe ich erst in dem Moment verstanden.
Trotzdem muss ich sagen, dass ich mich von dem Gefühl der Schizophrenie nicht frei machen kann. Ruth Löbner, die für Kinder schreibt, fühlt sich völlig anders als Ruth Löbner, die für Erwachsene schreibt. Und ich kann noch nicht genau den Finger darauf legen, worin sich das begründet. Du stehst ja mit deinem aktuellen Projekt grade an der Schwelle zur Jugendbuchautorin. Weht dich da diese Schizophrenie auch an?

Eigentlich nicht. „Eigentlich“, weil ich mich sowieso bei jedem Buch unterschiedlich erlebe, je nachdem, wovon ich schreibe und welche meiner Eigenschaften dabei in den Vordergrund tritt.
Es kann passieren, dass ich denke: Hammer, die Huppertz ist aber energisch! Und ein anderes Mal: Ah, sie ist leise-beobachtend. Und ein drittes Mal: Oha, diese Frau ist doch ein klitzekleines bisschen ... sonderbar.
Ähnlich geht es mir, wenn ich mich in verschiedenaltrige Protagonisten hineinschreibe. Manchmal meldet sich dann die Fünfjährige, die ich mal gewesen bin, und flüstert mir etwas ins Ohr, manchmal die Sechzehnjährige und manchmal die Erwachsene von heute. Und jede von ihnen hat nicht nur eine ganz andere Stimme, sondern bringt auch ganz verschiedene Erfahrungen, Gedanken und Gefühle mit.
Aber genau wie die Töne einer Melodie stehen diese kleinen und größeren Nikolas nicht für sich, sondern gehören alle zu einem (halbwegs) stabilen Autoren-Ich. Und ich finde es unheimlich spannend, dieses durch möglichst abwechslungsreiche Buchprojekte in alle Richtungen auszuloten. Denn eins möchte ich beim Schreiben niemals erleben: Eintönigkeit und Langeweile.

Vielleicht liegt es daran, dass meine Buchprojekte für ein einheitliches Selbstverständnis zu unterschiedlich sind? Ich arbeite zwar hier wie da mit existenziellen Themen, bemühe mich aber immer, das im Kinderbuch mit Wärme, etwas Humor und einer Einstellung umzusetzen, die die Leichtigkeit im Schweren aufzeigt. Im Erwachsenenbereich dagegen sind mir diese „Lichtblicke“ kein Anliegen. Da lasse ich ziemlich viel Düsternis zu, ohne zu relativieren. Und diese beiden Herangehensweisen gleichzeitig im Blick zu halten, fällt mir schwer. Wobei ich mich als Mensch viel weniger widersprüchlich erlebe als als Autor. Vielleicht hängt auch das wieder mit dem Thema „Literatur als Kommunikation“ zusammen. Ich rede mit meinen Freunden natürlich anders als mit meinen Kindern. Dabei vertraue ich darauf, dass Erstere es einordnen können, wie ich mit meinen Kindern kommuniziere und Letztere es akzeptieren, dass sie nicht immer zuhören dürfen. Aber Bücher gibt man her, man redet sie sozusagen ins anonyme Unbekannte hinein, ohne gezielt steuern zu können, was wen erreicht. Darüber hinaus ist die Kommunikation via Geschichten ja noch mal viel indirekter als ein Vier-Augen-Gespräch. Da frage ich mich schon, wie ich von der Außenwelt „zusammengesetzt“ werde, bei einem so widersprüchlich erscheinenden Output. Und ob mir das gefällt oder nicht, diese Außensicht beeinflusst mein Selbstbild relativ stark.

Um das, was Du als „Leichtigkeit im Schweren“ bezeichnest, bemühe ich mich beim Schreiben ebenfalls – und das ist jetzt nicht zu verwechseln mit Schönrednerei und Zwangs-Happy-Ends. Es ist eher eine innere Haltung, die ich auch im echten Leben versuche einzunehmen: Schwierigkeiten konstruktiv zu begegnen und die Dinge, die schön sind, dabei nicht aus dem Auge zu verlieren.
Vielleicht zieht es mich ja gerade deshalb zur Kinder- und Jugendliteratur?
Meine eigene Kindheit und Jugend waren in existenzieller Hinsicht sehr durchwachsen und haben viel Eigeninitiative erfordert, um trotz allem, was weh tat, immer wieder aufs Neue dem Glück zu begegnen. Meine Protagonisten haben mit genauso vielen Schwierigkeiten zu kämpfen wie ich damals, und ich gönne es ihnen von Herzen, dass sie in irgendeiner Weise gestärkt daraus hervorgehen – ob sich nun die äußeren Bedingungen ändern oder auch nicht. Wenn sie anfangen zu kommunizieren, sich zu öffnen, die Dinge aktiv und mit Humor in die Hand zu nehmen, ist das für mich selbst jedes Mal ein Stück weit Klärung und Befreiung – weil die Kindheit eben so wahnsinnig starke Eindrücke in uns Menschen hinterlässt.

Ja, auf der bewussten, aber viel stärker sicher noch auf der unbewussten Ebene. An der Oberfläche „packe“ ich in meine Texte immer recht wenig von meiner eigenen Kindheit hinein. Es gibt fast keine (für mich erkennbaren) Parallelen zwischen meinen Figuren und mir. Mit Vorliebe beschreibe ich die Dynamiken zwischen Vätern und Söhnen – wobei ich immer das Gefühl habe, mir selbst bei dieser Themenauswahl noch nicht auf die Schliche gekommen zu sein. Vielleicht erkenne ich eines Tages ja das Muster dahinter. Auch bei den Strategien, wie ich meine Figuren ihre Konflikte lösen lasse, habe ich nicht das Gefühl, von mir selber abzuschauen oder vielleicht auch zu kompensieren, was damals nicht funktioniert hat.
Aber inwieweit das überhaupt geht, das Schreiben für Kinder, ohne das Kind, das man mal war, „anzuzapfen“, lässt sich gar nicht beurteilen. Wir waren ja alle Kind und sind geprägt von dieser ersten Lebensphase. Beim Versuch, sich in andere Kinder (also auch in die Figuren unserer Texte) hineinzuversetzen, wird immer die eigene Kindheit einen Einfluss haben. Ob wir den nun sehen oder nicht.

Genau das meine ich. Es geht niemals darum, sich selber „abzuschreiben“, sondern das eigene Gefühl von Kindheit, also von Unmittelbarkeit, Spontaneität und dieser unglaublichen Intensität des Erlebens, in interessanten Geschichten wieder aufleben zu lassen. Und damit - hoffentlich - Leseerlebnisse zu erzeugen, die wiederum etwas in den jetzigen Kindern hinterlassen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bittedanke gleichfalls.